Ein Wald, so dicht, dass man die einzelnen Bäume nicht mehr sieht, ihre ausladenden Kronen drängen sich zusammen, als würden sie ein trautes Gespräch führen. Hüben raschelt es, drüben schrillt es. Doch die Rede ist hier nicht von tropischen Gefilden, sondern von «Urwäldern» mitten in Europa. Auch in diesem Erdteil kreucht, fleucht und gedeiht es nach wie vor, wenngleich nicht mehr in derselben Üppigkeit wie einst: Kaum vorstellbar, dass die Länder dieser Breitengrade fast vollständig bewaldet waren.

Vor rund 6000 Jahren war Europa ein Kontinent der Urwälder – rund 80 Prozent seiner Fläche war vom saftigen Grün überzogen. Heute sind noch 40 Prozent Europas bewaldet und nicht einmal mehr 0,2 Prozent des Kontinentes mit unberührtem Wald bedeckt (Quelle: WWF Deutschland). Es sind nicht pirschende Pumas, Palmenwedel oder tarzantaugliche Lianen, die einen «Urwald» definieren. Sogenannte «Primärwälder» sind solche, die sich seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden wild weiterentwickeln, wo die Natur den Takt vorgibt und nicht die Menschenhand mit Motorsäge. Es ist Wald in seiner ursprünglichen Form: rau, unordentlich, majestätisch. Auf jedem Quadratmeter reimt die Natur ein eigenes, dichtes Gedicht der Gattungen.

Ungezähmt in die Zukunft

In den entlegenen Winkeln Europas erstrecken sich noch rund 1,4 Millionen Hektar verwunschener Primärwald, verstreut in 34 Ländern. Alte Buchenwälder findet man beispielsweise an der Steilküste auf Rügen, aber auch im 1500 Kilometer langen Hochgebirge der Karpaten und in weiteren Ländern wie Slowenien oder der Schweiz – sie gelten zusammen als transnationales UNESCO-Weltnaturerbe. Die Buchen sind gewissermassen die «Ureinwohner» des Kontinentes, die ihn grösstenteils bedecken würden, wäre da nicht das menschliche Eingreifen. Von «Urwäldern von morgen» ist die Rede bei Wäldern, die dank konsequentem Schutz das Potenzial haben, in Zukunft möglichst naturnah, biodivers und ökologisch zu gedeihen: «Bäume dürfen wachsen, altern, vergehen und in einem Kreislauf neues Leben hervorbringen» (Quelle: WWF Deutschland).

Stehen seit 2021 auf der Welterbeliste: die Buchenwälder des Lodano-Tals. © Ascona-Locarno Tourism, Alessio Pizzicannella

Prosperierendes Paradebeispiel hierfür sind etwa die Thüringer Urwaldpfade: Ausschliesslich bestehende Pfade führen durch das Dickicht, vorbei an liegengebliebenen moosumhüllten Strünken, zwischen alten Buchen und knorrigen Fichten, unter seufzenden Ästen und über wucherndem Wurzelwerk. In diesen Kernzonen des UNESCO-Biosphärenreservats Thüringer Wald, wie etwa auf den Urwaldpfaden Vessertal oder Grosser Beerberg, ist der Mensch achtsamer Gast.

Schattenwurf der Urzeit

Solche für die natürliche Dynamik geschützte Zonen, die aufgrund der langen Geschichte und Naturbelassenheit noch als «Urwald» durchgehen, sind beinahe so schwer zu finden wie schlafende Drachen: tief verborgen und geheimnisvoll. Dazu zählt etwa der Bödmerenwald im hintersten Muotatal (SZ), der mit rund 550 ha als grösster, echter Fichtenwald der Alpen und Westeuropas gilt. Auch im Naturschutzgebiet Deborence im Wallis scheint die Zeit stehengeblieben zu sein: Hier entfaltet sich der Wald ungebändigt, Fichten, Lärchen und Arven ragen aus dem steilen Hang am See, wie erhabene Ritterinnen, welche den einstigen Felsstürzen getrotzt haben. Schwer zugänglich, befindet sich einer der letzten Schweizer Bergurwälder grösstenteils seit beinahe dreihundert Jahren in natürlichem Zustand. Bricht ein Baumgreis, dessen Stammdurchmesser durchaus eineinhalb Meter betragen kann, zusammen, wird er zum «Geburtssaal» der Tannen-Keimlinge.

Ebenfalls im Wallis befindet sich der wohl älteste Lärchenwald der Schweiz: Die bis zu 850 Jahre alten knorrigen Kieferngewächse haben die natürlichen und historischen Geschehnisse in ihren Jahresringen archiviert. In diesen «Urwäldern» wähnt man sich wie in einer lebendigen Kathedrale, die Stämme sind wie Säulen, die das Himmelsgewölbe tragen, das Licht wirft magische Muster wie durch Buntglasfenster auf den Boden. Wer lange genug hier verweilt, fühlt sich gewiss geerdet, denn die Urtümlichkeit wirkt wie eine «Wurzelbehandlung» für das Gemüt.