«Süsses oder Saures?» Seit den 1990er-Jahren ist Halloween auch in hiesigen Quartieren angekommen, kuriose Kürbisfratzen glotzen einem von Fensterbänken entgegen, kleine Vampire mit Bettlakenumhang und schiefen Hüten geistern durch die Gassen. Wer sich nicht nur erschrecken, sondern die Wurzeln von Halloween ergründen möchte, landet im Land der grasbewachsenen Hügel, des Moornebels und der Steinkreise: Die Wurzeln von Halloween reichen über 2000 Jahre in das heidnische Irland zurück, als man im mystischen Osten der Insel mit dem Ahnen- und Erntefest Samhain nicht nur den Winter begrüsste, sondern auch die Pforten zur Anderswelt öffnete.

Bis heute lässt es sich zum Herbst, wenn das Diesseits und das Jenseits erschreckend nah zusammenrücken, jeweils feierlich zwischen den beiden Welten wandeln. Die Menschen in Irland führen das Kulturerbe der alten Kelten fort und verbinden es mit Lebensfreude, sodass sie Halloween nicht nur eine Nacht widmen, sondern eine ganze Festivalsaison. Wenn das Licht schwindet und die Schatten länger werden, verwandeln sich Städte und historische Stätten in Spielplätze der spukhaften Schelmerei. So finden Ende Oktober jeweils legendäre Paraden und artistische wie musikalische Performances statt, begleitet von familienfreundlichen Events wie Kürbisschnitzen oder Geistertouren im Taschenlampenschein. Dafür verkleiden sich die Gäste nicht kurz mal, vielmehr wird Halloween zur Haute-Couture des Jenseits mit Kostümen, die so detailverliebt und aufwändig sind, dass selbst kauzige Kobolde beeindruckt ihre Hüte ziehen. Kurz darauf schon, Ende November, übernimmt Santa Claus die Bühne, mit lauthalsem «Ho, ho, ho» statt «Buh!».

Weihnachtszauber erfüllt den Platz vor dem Belfast City Hall. © 2022 Brian Morrison

Vom Spuk zum Sternglanz

Gerade noch waberte der Nebel der Anderswelt über Irlands Hügel, da flirren schon die Lichterketten in den Gassen. Aus dem Schattenreich des Samhain erwächst quasi ein funkelndes Winterwunderland. Wo vor kurzem noch Kobolde und Geister ihre Runden drehten, locken nun Düfte von Irish Coffee, inmitten von Weihnachtsmärkten mit kunstvollem Handwerk, das man in Nullkommanichts als Geschenk unter seinen Tannenbaum legen möchte. Eines sei vorweggenommen: Die Menschen der Grünen Insel zelebrieren Weihnachten einen Zacken anders als im Rest der Welt. So heisst das Dreikönigsfest am 6. Januar «Little Christmas» oder «Women›s Christmas», die Leute rufen sich «Nollaig Shona Duit» oder «Ablythe Yuletide» zu und knuspern Brot, das nicht nur ein Kreuz auf der Kruste, sondern auch ein Geheimnis in sich trägt … Aber: Alles der Reihe nach. Genauso sind schliesslich auch die Häuschen auf dem Weihnachtsmarkt aufgestellt, zum Beispiel in Belfast am Ufer von Belfast Lough, im Schatten von Cave Hill.

Glühwein, Lichterglanz und gemeinsame Momente vor Belfasts historischer Kulisse. © Bernie Brown bbphotographic.co.uk

Tannenduft in der Titanic-Stadt

Belfast, einst das industrielle Herz Irlands, hat sich in den letzten Jahrzehnten neu erfunden: mit avantgardistischer Küche, lebendiger Street Art und Vierteln, die aus rohem Backstein bestehen. Die Pubs sind warm und geschmückt, der Tee ist aromatisch, und draussen duftet es nach gebrannten Mandeln und Glühwein mit irischem Einschlag. Schon auf dem Weg zum flächenmässig grössten Weihnachtsmarkt Irlands, der vom 15. November bis 22. Dezember rund um das Rathaus stattfindet, trällert man beschwingt «Fairytale of New York», das wahrscheinlich bekannteste irische Weihnachtslied. Doch, doch, das muss in der offiziell von der UNESCO zur «City of Music» geadelten Stadt drin liegen.

Auf den Lippen liegt natürlich auch «My Heart will go on», schliesslich wurde die Titanic in Belfast gebaut, dem historischen Unglücksschiff sind zig Attraktionen wie auch Ausstellungen gewidmet. Zurück zur ehrwürdigen City Hall, wo sich das glühende Herz der Weihnacht erhebt: Hübsche Holzhütten dicht an dicht, jede ein kleiner Kosmos aus Kostbarkeiten und Köstlichkeiten von katalanischen Süssigkeiten bis zu irischen Wollaccessoires. Über 100 internationale und lokale Händler beleben den hell erleuchteten Platz, sodass Gäste etwa italienische Schokolade zum Verschenken ergattern und in deutsche, gerade noch brutzelnde Bratwürste beissen oder spanische Paella gabeln und dazu im Takt der Live-Musik wippen, ehe die rotwangigen Kinder den Weihnachtsmann treffen oder den Markt vom Dach der historischen Karussellbahn von oben bestaunen. Ob sie sich später wohl noch dazu bewegen lassen, ein Familienfoto in der riesigen Schneekugel zu schiessen …?

Magie Marlay-Park: «Wonderights» ist das grösste Lichtspektakel des Landes. © stock.adobe.com, dima

Doch während manche noch mal eine rasante Runde mit Karussell fahren oder an der Bude mit den handgemachten Rentier-Socken hängenbleiben, zieht es andere weiter – südwärts, entlang der Küste. Dorthin, wo Irland ein wenig mondäner und betriebsamer, aber nicht weniger herzlich ist: in die Hauptstadt Dublin.

Christmas mit Craic-Garantie

Die gesellige UNESCO-Literaturstadt – schliesslich ist Dublin die Heimat von drei der vier irischen Literatur-Nobelpreisträger und steht für Autoren wie Jonathan Swift, Oscar Wilde und James Joyce – schlüpft für ein paar Wochen im Advent in ein festliches Gewand. Die irische Stadt sei so lauschig wie ein Dorf und so freundlich wie ein typisches irisches Pub, heisst es. Gerade der Weihnachtsmarkt im Innenhof des mittelalterlichen Schlosses verspricht «Craic» – ein irischer Slang-Begriff, der so viel bedeutet wie eine gute Zeit, Spass, Lebensfreude. Wenn es ein einziges Wort gäbe, um das Gefühl Irlands zusammenzufassen, dann wäre es wohl dieses.

Am «Dublin Castle Christmas Market» schmiegen sich vom 27. November bis 17. Dezember Häuschen zwischen Gemäuer, die schon rebellische Grafen und königliche Gouverneure gesehen haben. Die Birnen der Lichterketten, welche die Marktbuden einrahmen, flackern in der nordischen Brise, als hätten sie etwas zu viel Irish Cream intus und funkelten tapfer gegen den Nieselregen an. Ja, die Nächte mögen etwas dunkler und kühler sein als anderswo, doch gerade das bringt den Glanz glorios zur Geltung. Etwa in der Grafton Street, die schon Ikonen Bono und Glen Hansard besangen. Die Einkaufsstrasse verwandelt sich in der Weihnachtszeit in einen legendären offenen Konzertsaal für Strassenmusikerinnen, spontane Chöre und Akkordeonspieler mit Nikolausmütze. Man lauscht den Melodien zwischen Duftkerzenläden, Juwelieren und Schaufenstern, die aussehen wie die Kinderfantasie eines Zuckerbäckers.

Die Bustour gewährt besonders lichtvolle Perspektiven auf Dublin. © Vintage Tea Trips

Funkelnde Rehe und frostige Rituale

Wer zwischen Leuchtornamenten und Lebkuchen eine Pause braucht, findet sie in der Stille der Bibliothek des Trinity College oder bei einem Spaziergang durch den historischen Park St. Stephen’s Green, wo inmitten der zahlreichen Statuen und Denkmäler Wasservögel um die Shortbread-Krumen balgen wie manche Kinder um die Geschenke. Wer sich weiter aus dem Zentrum wagt, findet im Süden Dublins ein Spektakel «unter Strom», im schönsten Sinne: Vom 21. November bis am 4. Januar kehrt Irlands grösste, immersive Lichtshow «Wonderlights» in den Marlay-Park zurück. Die Bäume, die kilometerlange Lichtgirlanden wie Kronjuwelen tragen, die «grasenden» Rehe aus zahllosen LEDs, die übergrossen Funkeleinhörner und -eichhörnchen wirken wie aus einer nordischen Fabel gefallen.

Auch Tausende Dublinerinnen und Dubliner fallen – und zwar in die eiskalte irische See. Am «Forty Foot» in Sandycove wagen sie sich unter den Augen von eingemummelten Schaulustigen an das Weihnachtsschwimmen vom 25. Dezember, eine der wichtigsten Traditionen Irlands. Kaum hat sich die Gänsehaut gelegt, braust der nächste Brauch um die Ecke: Am 26. Dezember streunen die «Wren Boys» in schrillen Strohkostümen durch Dublins Strassen. Es geht nicht um möglichst viel Chic, sondern – drei Mal darf man raten – um möglichst viel «Craic». Doch nun von den Bräuchen, von denen natürlich viele weitere lebendig sind, zu den Bäuchen – denn dort hinein gelangt selbstverständlich noch anderes als der weltberühmte Whiskey (diesem ist in Dublin übrigens ein Museum gewidmet).

Legendär für die festtägliche Strassenmusik: Schon Bono trat in der Grafton Street auf. © Conor McCabe

Feines und Festtagsjoker für Frauen

Die irische Küche ist kein zurückhaltendes Zuwinken, sondern eher ein kräftiger Händedruck. Auf den (weihnächtlichen) Tafeln dampfen etwa «Irish Stew», ein deftiger Eintopf mit Lamm, Kartoffeln und Wurzelgemüse oder die urige Kartoffelpfanne «Boxty» mit Knusperkruste.

Daneben wippen Puddings, die wider Erwarten nicht auf das Dessertbuffet gehören. Black Pudding ist eine herzhafte Wurst aus Schweineblut, Haferflocken und Gewürzen. White Pudding verzichtet aufs Blut, bringt dafür Schweinefleisch, Fett, Hafer und Zwiebeln in die Form.

Zwischendurch wandern die Finger zu den «Mince Pies», gefüllt mit Trockenfrüchten und Gewürzen. Oder aber zu einer schnellen Schlemmerei: Das rustikale Sodabrot kommt ohne Hefe und somit ohne lange Knet- und Gehzeit aus; Buttermilch und Natron lautet die Zutaten-Zauberformel. Ist der letzte Krümel vom Teller gepickt und glimmen die Kerzenflammen nur noch halbbatzig, kündigt sich das Finale der Festzeit an. Am 6. Januar steigt «Nollaig na mBan», der Weihnachtstag der Frauen.

Nordische Lichter: An zahlreichen Events kommt man in Festlaune. © Andres Poveda Photography

An «Little Christmas» heisst es für einen Tag: Shoppen statt Schoppen, Sektglas statt Staubsauger. Während die Männer sich um Kinder, Kegel und Küche kümmern, gönnen sich die Frauen Ruhe nach dem festlichen Sturm. Die Weihnachtsbeleuchtung ist ausgeknipst, die Windlichter flackern auf den Fenstersimsen weiter, wo in wenigen Monaten wieder die Kürbisse Grimassen schneiden. Und dann steht man da, über einem das magische Bunt der Polarlichter. Die Brillengläser leicht beschlagen von den Würzwolken der Tasse «Hot Toddy», das Herz buttertoffeeweich, und denkt: Ja, vielleicht ist das wirklich die sprichwörtlich schönste Zeit des Jahres. Ja, vielleicht ist sie in Irland sogar noch ein bisschen schöner.

www.ireland.com