Mitternacht, 4640 Meter über dem Meer. Das Abenteuer beginnt mit einem Kaffee: tiefschwarz, pappsüss und mit einer leichten Note Chemie – das Desinfektionsmittel, mit denen wir das Quellwasser am Kilimanjaro reinigen, lässt sich kaum überdecken. Egal. Hier geht es nicht um kulinarischen Genuss, sondern um den ersten Schub Energie für das Abenteuer, das vor mir liegt: die Besteigung des 5895 Meter hohen Kilimanjaro.

Es ist eine wolkenklare Vollmondnacht. Wie Glühwürmchen tanzen die Stirnlampen der anderen Seilschaften in der Ferne, die vor etwa einer Stunde aufgebrochen sind. Silbern liegt die Sand- und Stein-Ödnis vor uns. Schwarz erhebt sich der Gipfel vor einem indigofarbenen Himmel wie der Herrscher der Welt. Die Erhabenheit lässt mich erschauern. Seit vier Tagen sind wir nun schon am Kilimanjaro-Massiv unterwegs, ich und eine 13 Mann starke Truppe aus Trägern und Bergführern – die wahren Helden dieses Abenteuers. Die Porter schleppen jeweils 30 Kilogramm Ausrüstung den Berg hoch: mein Equipment, Zelte, Tisch und Stühle, die Küchengerätschaften, die Gasflasche und das gesamte Essen für insgesamt 15 Mann. Und sie sind schnell. Sie starten nach uns (die beiden Guides Stanford (42) und Exaud (51), der Fotograf Fabian und ich), überholen uns mit dem schweren Gepäck und haben das neue Zeltlager schon aufgebaut, wenn wir ankommen.

Kilimanjaro
Der Gipfel Kibo-Uhuru Peak ist mit 5895 m. ü. M Afrikas höchstes Bergmassiv. © Shutterstock / Rasmus Preston

Das Wichtigste: Sich Zeit lassen

Ich dagegen schleiche so langsam wie eine Schnecke. Im Durchschnitt etwa zwei Stundenkilometer. Dabei hat die gesamte Route eine Schwierigkeit wie ein gelb markierter Schweizer Wanderweg. Die Höhe ist das Problem. Wir starten unsere Wanderung auf der Lemosho-Route, die wegen ihrer teils steilen Passagen als anstrengendste, aber auch als schönste gilt, auf 3900 Metern, auf einer Höhe also, wo in den Alpen nur professionelle Bergsteiger unterwegs sind. Akklimatisation heisst das Zauberwort. Und diese fordert vor allem eines: Zeit.

Je länger man sich auf über 4000 Metern aufhält, desto besser kann sich der Organismus auf den geringen Sauerstoffgehalt einstellen. Auf dem Uhuru-Gipfel bei knapp 6000 Metern beträgt die Sauerstoffsättigung nur noch etwa 50 Prozent. Das verlangt Höchstleistung vom Körper. Puls und Atmung rasen: Der Körper versucht mit allen Mitteln mehr Sauerstoff durch das System zu pumpen. Um den Körper nicht zu sehr anzustrengen, besteht die Hauptaufgabe der Guides, vor allem im Bremsen. «Pole, Pole», ermahnen sie mich beständig: «Langsam, Langsam».

Für den gesamten Aufstieg sollte man sich mindestens sechs Tage Zeit nehmen: fünf Tage bis auf den Gipfel und einen Abstiegstag. Trotz Bummelei, langweilig wird es mir hier oben zwischen 4000 und dem Basislager für den Gipfel auf 4600 Meter nicht: Die Natur ist zu fantastisch. Es geht durch den Dschungel, über Ebenen, die mit riesigem Heidekraut überwuchert sind und durch Täler, in denen Bäume stehen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Palme oder Kaktus sein wollen. Ich kann mich kaum sattsehen. Insbesondere nicht an der Weite, an dem Blick, der von hier oben Hunderte Kilometer weit über die ostafrikanische Ebene reicht. Und in ein paar Stunden könnte ich auf dem gewaltigsten Aussichtspot des Kontinents stehen.

Wer den «Kili» bezwingen will, braucht Zeit. © Shutterstock / Jenny Vi

Zu wenig Sauerstoff

Aber jetzt in der Nacht des Gipfeltages, ist mir schlecht wie bei Seegang auf einem Schiff. Guide Exaud checkt meinen Zustand, wie an jeden Tag auf unserer Expedition. Das leichte Unwohlsein sei kein Problem, so Stanford, der schon mehrere hundert Male auf dem Kilimanjaro stand. Sorge bereitet ihm dagegen mein Sauerstoffgehalt: 79 Prozent zeigt der Oximeter. «Ich hatte gehofft, es sei ein wenig mehr.» Ich stehe auf und pumpe meine Lunge voll. Der Wert klettert auf 84 Prozent. Gar nicht so schlecht für die Höhe.

Mittlerweile ist es kurz nach 1 Uhr, wir brechen auf zum Dach Afrikas. Mit jedem Meter dringen wir in Höhen vor, die selbst nach der Akklimatisierung für den Körper ungewohnt sind. Deshalb gibt Stanford ein Marschtempo in Super-Superzeitlupe vor. Schritt – Schritt – Schritt. Wenn ein Fels im Weg liegt, über den wir klettern müssen, japse ich nach Luft wie beim Joggen. Beharrlich kämpfen wir uns voran – aber es könnte auch anders sein. Denn es kommen uns immer mehr Bergsteiger entgegen, die es nicht geschafft haben, junge, kräftig aussehende Frauen und Männer, die 20 Jahre jünger sind als ich. Wenn die kapitulieren, was ist dann mit mir? Nicht daran denken: weiterlaufen, weiterschleichen. Immer nur auf den nächsten Schritt konzentrieren. Atmen, tief atmen.

Blick auf den Kilimanjaro von der Lemosho-Route aus, die am Westhang startet. © Shutterstock / Damira

Sonnenaufgang auf 5600 Metern

Die Stunden ziehen sich. 5000 Meter, 5200 Meter, 5300 Meter. Bei 5600 Meter flackert der erste orangene Schimmer über den Horizont. Die Ebene mehrere Tausend Meter unter mir verfärbt sich langsam golden – der schönste Sonnenaufgang meines Lebens. Endorphine pulsieren durch meine Adern und machen die nächsten Höhenmeter etwas leichter. Dennoch dauert es noch über eine Stunde, bis wir kurz nach 7 Uhr den Kraterrand erreichen, den Stella Point auf 5765 Meter. Für 1100 Höhenmeter haben wir sechs Stunden benötigt. Mir geht es verblüffend gut. Kopfschmerzen habe ich keine (ein häufiges Wehwehchen in der Höhe), aber mir ist schlecht. Auf der anderen Seite des Kraters ist der Uhuru Peak zu sehen. «Nur noch eine Stunde», sagt Stanford. «Das schaffst du.»

Der heute erloschene Vulkan ist einer der grössten weltweit. © Shutterstock / Jennifer Collee

Aber der letzte Kilometer ist die Hölle, auch wenn es kaum eine Steigung zu überwinden gibt. Der gesamte Sauerstoff scheint sich aufgelöst zu haben. Meine Energie zerschmilzt wie die Gletscher, die hier oben gegen den Klimawandel kämpfen. Ich will eine Pause machen, mich hinsetzen. «Weiterlaufen, Christian!», drängt Stanford. Er weiss, ich würde nicht mehr hochkommen, würde ich mich auf den Hosenboden setzen. Schritt – Schritt – Schritt. Unser Tempo ist kaum messbar.

Um 8:11 Uhr ist es dann geschafft. Ich stehe am Uhuru Peak. Unglaubliche 5895 Meter über dem Meer. Ich warte auf das Glücksgefühl. Aber da kommt nichts. Mir ist schlecht und ich bin völlig fertig – der Körper hat keine Energie für andere Gefühle. Erst als ich mich hinsetze, etwas esse und eine Viertelstunde ausruhe, realisiere ich langsam, was ich da geschafft habe. Ich stehe auf dem Gipfel des Kilimanjaro, dem höchsten Punkt Afrikas. Erschöpfung, Erleichterung und endlich eine immense Freude vermischen sich zu einem seltsamen Gefühlsmix. Und dann stehe ich einfach nur da und mir rinnen Tränen übers Gesicht.