Wie eine dunkelviolette Naga, das mythologische Schlangenwesen Asiens, schlängelt sich der Mekong träge durch ein monochromes Farbenspiel dutzender Blautöne. Von einem buddhistischen Kloster wehen Mantragesänge herüber. Und fast scheint es, Luftgeister weben über dem Strom im Rhythmus der heiligen Melodien. Oder ist es nur morgendlicher Dunst? Es ist kurz vor Sonnenaufgang im Goldenen Dreieck, der Grenzregion zwischen Thailand und Laos, und im Schwebezustand zwischen Nacht und Tag möchte man gerne an die Legenden und Mythen glauben, die wichtiger Bestandteil sind im Leben der buddhistischen Laoten und Thailänder. Warum soll es keine Nagas auf dem Grund des Mekongs geben, die in gewaltigen Palästen leben und bisweilen Leuchtbälle in den Himmel steigen lassen?

Und als wir dastehen am schlammigen Ufer im Ort Houayxay, triumphiert das schwärmerische Gehirn über das rationale: Uns hat die Mystik des Moments ergriffen.

Das «goldene Dreieck» liegt im Grenzgebiet von Laos, Thailand und Myanmar. © Alexander Zvarich l AdobeStock

Mystischer Mekong

Kein Wunder zählt der Mekong, auf dem wir für zwei Tage bis in die alte Königsstadt Luang Prabang unterwegs sein werden, zu den magischen Orten Asiens – und eine Bootstour zu den grossen Highlights einer Südostasien-Reise. Der Mekong gilt als Mutter aller Wasser – wie die Menschen an seinen Ufern glauben. Er entspringt im Hochland von Tibet und mündet nach 4500 Kilometern in Vietnam ins Chinesische Meer. Er ist Lebensspender für 60 Millionen Menschen, Energielieferant durch Wasserkraftwerke und Verkehrsweg.

Manch ein Ort entlang des Flusses ist auch heute noch am besten mit dem Boot zu erreichen. Und so sind die sogenannten Long Boats, die etwa 40 Meter lang, aber nur 2 Meter breit sind, Passagierfähre und Lastkahn in einem. Freilich, die mit Abstand grösste Zahl der Boote wird heute für den Tourismus eingesetzt. Bei der Billigvariante für die Backpacker ist das Deck teils eng mit Holzbänken und meist mit ausrangierten Autositzen vollgestellt. Die edlere Variante trumpft mit gemütlichen Sitzen, Tischen und asiatischen Lounge-Sofas auf.

Eine Reise so gemächlich wie das Land

Vor 12 Jahren stand ich schon einmal hier und zwängte mich mit einer Horde Backpacker auf ein Boot, Rückenschmerzen nach zwei Tagen inklusive. Deswegen gönnen wir uns diesmal die Luxusvariante – das Erlebnis hat sich seit damals dennoch nicht verändert: Während der zweitägigen Reise, bei der man im Ort Pak Beng übernachtet, fliesst die Zeit so träge dahin wie Honig – und ebenso süss. Vor den Fenstern ohne Scheiben zieht Bilderbuch-Asien vorbei. Kleine Bambushütten kleben an den Berghängen, Frauen waschen Kleider im Fluss, Kinder planschen herum, Wasserbüffel suhlen sich im Schlamm und Männer werfen Netze aus.

Zu tun gibt es nichts, ausser sich dem langsamen laotischen Rhythmus anzupassen und das Leben am Fluss zu beobachten. Das ist reinste Burnout-Vorsorge. Ein Mal pro Tag gehen wir an Land, um ein Dorf zu besuchen, in denen Mitglieder der Volksstämme der Hmong oder der Khmu leben – die Bewohner erhoffen sich Einnahmen durch den Verkauf von Souvenirs, Holzschnitzereien, Schals, Tüchern und Taschen. Die Holzhäuser sind schlicht, Strom gibt es keinen, dafür sehen wir hie und da Solarpanelen. Auch vor dem einzigen Laden im Dorf, wo sie anscheinend einen Kühlschrank am Laufen halten. Wir trinken eine Cola, umringt von den Kindern des Dorfes, die uns nach Stiften fragen. Das Leben auf dem Land ist einfach. Laos gleicht Thailand vor etwa 30 oder 40 Jahren, ist kaum industriell entwickelt. Die Menschen betreiben in ihren bescheidenen Dörfern noch Subsistenzwirtschaft, also produzieren hauptsächlich für den Eigenbedarf.

Aberwitziger Kontrast: Per Schnellzug von Südchina nach Südostasien. © pong l AdobeStock

Ein Schnellzug für Laos

Deshalb staunen wir umso mehr, als wir kurz vor der Stadt Luang Prabang eine neue Brücke über dem Mekong sehen, über den in unglaublichem Tempo ein Zug rattert: ein Hochgeschwindigkeitszug. Was für ein aberwitziger Kontrast. Die Eisenbahn ist ein Geschenk der Chinesen und führt von der chinesischen Grenze über die Städte Luang Prabang und Vang Vieng in die Hauptstadt Vientiane. Allerdings handelt China nicht aus Menschenliebe: Es geht schlicht um eine schnelle Verbindung für Chinas Güter nach Thailand und weiter nach Singapur, wenn die Strecke einst fertiggestellt sein wird. Für Touristen (und reichen Laoten) ist die Strecke, welche die drei wichtigsten Städte des Landes verbindet, freilich eine enorme (Reise-) Erleichterung.

Die Auswirkungen der im Jahr 2021 eröffneten Bahn haben sich mittlerweile auch in den Touristenzahlen niedergeschlagen: Laos verzeichnet einen Zuwachs an Besuchern aus Thailand und Vietnam, für die das weniger entwickelte Land exotisch und vor allem günstig ist.

Laos ist wenig entwickelt

Wir sind nicht sicher, was wir von dem neuen Zug halten sollen. Laos belegt auf dem Ranking der «menschlichen Entwicklung» Platz 139 (Im Vergleich dazu liegt das benachbarte Thailand auf Platz 66) und benötigt dringend Unterstützung im Gesundheitswesen, in der Bildung und in der Ansiedlung nachhaltiger Industriezweige. Auch die Infrastruktur braucht vorrangig ein Facelifting. Die wenigen geteerten Strassen sind knochenbrecherische Schlaglochpisten, auf denen man pro Stunde keine 50 Kilometer weit kommt – aber ein Schnellzug, der nur für Touristen und Reiche bezahlbar ist, ist da – gelinde gesagt – ein Humbug. Zudem ist der ultramoderne Schnellzug ein Fremdkörper in einem Land, in dem der Rhythmus des Lebens so gemächlich dahinfliesst wie der Mekong. Die Laoten scherzen deshalb manchmal: «Unser Land heisst Laos – Please Don’t Rush», also: nur keine Eile. Abgeleitet ist das Wortspiel vom offiziellen Namen des kommunistischen Landes «Lao People’s Democratic Republic» (Lao PDR).

Alte Königsstadt: Luang Prabang zählt seit 1995 zum UNESCO-Welterbe. © Kudos Studio l AdobeStock

Die schönste Stadt Asiens

Wie gesundend dieser Lebensrhythmus sein kann, erleben wir in der Stadt Luang Prabang. Die alte Königsstadt ist der wohl schönste Ort Südostasiens. Einer jener Orte, den man in seinem Leben gesehen haben muss. Luang Prabang ist die charmanteste und fotogenste Stadt Südostasiens. Luang Prabang war von 1893 bis 1953 Hauptstadt des französischen Protektorats Laos, Teil von Französisch-Indochina. Und natürlich haben die Franzosen ihre Architektur mitgebracht und so präsentiert sich das historische Luang Prabang wie ein Mix aus Asien und Europa.

Jahrhundertealte Tempel wechseln sich mit ehemaligen Kolonialvillen ab. 1995 hat die UNESCO das einzigartige Zusammenspiel von buddhistischen Bauten und Kolonialarchitektur zum Weltkulturerbe erklärt. Ein weiteres Überbleibsel aus der Zeit der Franzosen hat bis heute Bestand: eine Café-Kultur, inklusive Pain aux raisins, Croissants und Baguette. Und manchmal findet man (zu astronomischen Preisen) sogar original französischen Käse – eine Freude für den Gaumen, wenn man durch Südostasien tourt und Reis und Curry nicht mehr sehen kann.

Die Tempelanlage Wat Xieng Thong wurde im Jahr 1560 erbaut. © Mariusz Prusaczyk l AdobeStock

Doch trotz europäischem Einfluss sind es die lebendigen, tausendjährigen buddhistischen Traditionen, welche der Stadt ihrer Magie verleihen. Allein in der historischen Altstadt, die gerade mal zwei Kilometer lang und 300 Meter breit ist, befinden sich 33 Tempel, die immer auch als Klöster fungieren. Und gemäss buddhistischer Lehre leben die Mönche nur von dem, was sie als Almosen geschenkt bekommen.

Jeden Morgen vor Sonnenaufgang ziehen Hunderte orangefarbene Mönche wie ein safranfarbiger Fluss schweigend durch den Ort, um die Essensgaben der Bewohner zu empfangen. Eine stille, meditative Prozession. Und jeden Sonnenuntergang knien wir in der goldgrün schimmernden Meditationshalle des ehrwürdigen Tempels Wat Xieng Thong und lauschen den Matragesängen, die in der Nacht verwehen. Und wieder ergreift uns die Magie.